"Tatsache ist, daß es weder Wände noch Decken noch Fußböden hat: Es hat nichts, was es als Stadt erscheinen ließe, mit Ausnahme der Wasserleitungen, die senkrecht aufsteigen, wo die Häuser stehen müßten, und sich verzweigen, wo die Stockwerke sein müßten: ein Wald von Leitungen, die in Hähnen, Duschen, Siphons, Gullys enden. Weiß leuchten gegen den Himmel ein paar Waschbecken oder Badewannen oder anderes Steingut wie spätreife Früchte, die noch an den Zweigen hängen."
Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte.
Mlle Händel - 20. Sep, 19:59
Es gibt Morgende, da stört einen nicht mal der Geruch nach Zwiebelmett im Bus.
Mlle Händel - 16. Sep, 11:30
Das Ende kam jetzt sehr schleichend. Ich hatte irgendwie erwartet, dass es lauter sein würde. Ist ja erst die Rohform, will ich mir selber sagen, jetzt geht's ja wieder von vorne los. Denk an die Fußnoten! Trotzdem. Ich bin fertig. Habe nur noch sehr wenig Herzblut übrig. Mein Gehirn ist leergesaugt. Fertig. Jetzt schlafen. Oder auf den Dächern tanzen. Weiß noch nicht so genau. Vielleicht beides.
Mlle Händel - 12. Sep, 13:06
Der heutige Tag war bisher ausgesprochen schön. Verwunderlicherweise.
Er begann mit dem Anfertigen von Passbildern für einen neuen Personalausweis. Normalerweise ein Garant für schlechte Laune, war diese Erledigung heute sehr nett. Ich bahnte mir meinen Weg durch die Herbstmode im ersten Stock eines großen Kaufhauses am Neuköllner Hermannplatz, fand in einer Ecke die Arbeitstätte eines Fotografen, eingezwängt zwischen Änderungsschneiderei, Einpackservice und Kaffeebar, nahm, weil eine andere Kundin vor mir dran war, auf einem blauen Sofa Platz, das mit weiteren blauen Sofas zu einer kommunikativen Sitzecke um einen niedrigen Glastisch gruppiert war, und hatte gerade genug Zeit, zwei ältere Damen zu belauschen, die sich, morgens um 10, eine kleine Kaffeepause vom anstrengenden Einkauf gönnten. Eigentlich trank nur die eine Kaffee, und zwar einen Cappuccino, dessen Milchschaum die andere mit „Na det is ja n Berg“ kommentierte. Die cappuccinotrinkende Dame rechtfertigte ihren Kaffeegenuss, „Kaffee, det is ja meine einzige Leidenschaft. Irgendwas muss man ja noch vom Leben haben.“ Die andere Dame sagte nichts und zog ihre bunte Strickjacke zurecht, so wie ältere, füllige Damen es zu tun pflegen.
Mehr war mir von dieser Unterhaltung nicht vergönnt zu hören, ich durfte Fotos machen gehen, und das Ergebnis, das mir die reizende Fotografin vorlegte, war durchaus zufriedenstellend.
Dann radelte ich zum Amt. Ich hatte angesichts der zu erwartenden langen Wartezeit ausreichend Lektüre mitgebracht, doch ich kam gar nicht zum Lesen. Kaum hatte ich mir einen grauen Hartschalenstuhl für die Zeit des Ausharrens ausgesucht und mich darauf niedergelassen, hatte die erstaunlich wenigen anderen Wartenden in dem durch Sonnenstrahlen zumindest ein bisschen freundlicher wirkenden Warteraum in Augenschein genommen, da wurde ich auch schon aufgerufen. Jedoch nicht ohne vorher eine aufgeräumte Frauenstimme aus einem der Amtszimmer rufen zu hören: „Herr ..., das hat alles geklappt!“, worauf ein junger Mann im Warteraum aufstand und laut: „Das ist ja toll, danke“ rief. Noch grübelnd, ob ich mich tatsächlich im Bürgeramt befand, betrat ich den mir zugewiesenen Raum. An Platz 4 traf ich auf einen freundlichen jungen Sachbearbeiter, dem Nachnamen nach mit Migrationshintergrund, was an sich gar nichts zur Sache tut, außer vor dem Hintergrund, dass das Rechtschreibprogramm hier auf meinem Computer das Wort Migrationshintergrund als fehlerhaft markiert. Egal. Weiter. Das Beantragen eines neuen Ausweises inklusive eines vorübergehenden, weil ich mal wieder nicht rechtzeitig aus dem Knick gekommen bin und immer alles plötzlich sofort brauche, gestaltete sich unkompliziert und freundlich. Untermalt wurde die Angelegenheit von dezenten Schlagerklängen aus dem Radio auf dem Aktenschrank am Fenster, das offensichtlich der Kollegin meines Sachbearbeiters gehörte. Sie war wohl auch für die Dekoration des Raumes zuständig gewesen. Sicher wollte sie den Raum nett und freundlich gestalten, um den Antragstellern ein Gefühl der Wärme und Heimeligkeit zu vermitteln, nicht immer haben die es ja leicht im Leben. Vielleicht wollte sie es aber auch ein wenig wie zuhause haben. Auf jeder freien Fläche standen neckische Tonfigürchen, die entfernt an Vorbilder aus dem Tierreich erinnern sollten, darunter ausgebreitet lagen Papierservietten mit gelben Sonnenblumen, und auch das Glas mit Kaffeeweißer auf einem Beistelltisch hatte eine farbenfrohe Papierunterlage erhalten.
Während ich ein wenig warten musste, bis der Drucker funktionierte, konnte ich verfolgen, wie jene stilsichere Amtsdame einen Herrn mit Wohngeldantrag dermaßen freundlich beriet, dass ich mich schon auf den Tag freute, an dem ich meinerseits Wohngeld beantragen würde.
Als ich wieder in den Sonnenschein hinaustrat, war ich ganz benommen. Ich betrachtete noch einmal das Dokument, das ich in der Hand hielt, als erwartete ich, dass sich der vorläufige Personalausweis mit obendrein ansehnlichem Foto, dessen Anfertigung mich seit dem Verlassen des Hauses alles inklusive knappe eineinhalb Stunden gekostet hatte, in Staub auflösen würde. Oder sich als gefälscht entpuppen würde. Er war echt.
(Dass mich dann später im Bus ein mitreisender Polizist ohne Grund freundlich anlächelte, verwunderte mich gar nicht mehr. Irgendwas stimmt heute nicht.)
Nachtrag: Es ist wirklich nicht zu fassen. Soeben hat die Furie Dame im Prüfungsbüro am Telefon freundlich meine letzten Sorgen bezüglich der Abgabe meiner Arbeit aus dem Weg geräumt und mir "toi toi toi, viel Glück auf den letzten Metern" gewünscht.
Mlle Händel - 11. Sep, 14:17
Ich lese gerade eine Biographie über
Samuel Pepys (sprich: Pieps), den ersten großen Tagebuchschreiber der englischen Literaturgeschichte. Dauernd kommt dort Oliver Cromwell vor, und ich kriege seit Tagen das
Lied von Monty Python nicht aus dem Kopf.
Mlle Händel - 8. Sep, 15:30
Beim Mittagessen kündigte ich, da das Salz zur Neige ging, einen Einkauf an. Es folgte eine kleine Diskussion über die Begrifflichkeiten bummeln vs. shoppen, bei der ich die These vertrat, dass shoppen wesentlich aggressiver klänge als das schöne bummeln, übermäßiges Geldausgeben quasi impliziere, was wiederum eine Diskussion über das englische Verb to shop auslöste, das ja an sich auch nur den Besuch eines Geschäftes bedeutet und eigentlich noch nichts mit Geldausgeben zu tun hat. Geldausgeben ist bei mir ein bisschen schlecht gerade.
Die Mitbewohnerin riet, bei diesem schönen Wetter doch über die Oranienstraße zu bummeln (wir hatten uns mittlerweile auf das Vokabular geeinigt), doch ich entschied mich für den Kottbusser Damm. Den mag ich sehr gerne. Man bekommt hier alles, was man zum Leben braucht. Und, so erläuterte ich der Mitbewohnerin, sei die Tatsache, kein Geld zu haben, auf dem Kottbusser Damm leichter zu ertragen. Man bekommt dort zwar alles, was man zum Leben braucht, wird aber nicht permanent durch aufdringliche Läden und deren Publikum daran erinnert, was man sonst noch gerne so an Überflüssigkeiten besitzen würde. Man kann eben viel entspannter bummeln. Ich machte mich auf den Weg.
Das Salz kaufe ich nicht etwa in einem billigen Supermarkt, oh nein, ich kaufe grobes Meersalz im Bioladen. Und auch einen solchen gibt es unweit des Kottbusser Damms. Dort fiel mir dann ein, dass ich dringend Müsli brauchte, und auch die Tomaten sahen sehr schön aus und waren nicht allzu teuer. An der Kasse fiel mir auf, dass die Tasche, die ich dabeihatte, viel zu klein für die gerade erworbenen Güter war. Ich kaufte also noch eine Papiertüte. Sie kostete 20 Cent und war braun. Sie knisterte. Und sie war beschriftet. Für überzeugte Genussmenschen prangte dort in großen schwarzen Lettern. Um mich meiner Identität als Genussmensch zu vergewissern, brauche ich keine Tüte, die mich daran erinnert, fand ich. Vor allem aber möchte ich diese Tatsache nicht durch Tüten meiner Neuköllner Umwelt kundtun. Und so drehte ich die Tüte so, dass man nur die andere Seite sehen konnte, auf der immerhin noch echt bio stand. In grün.
Irgendwie empfand ich es dann als Genugtuung, bei der billigen Drogerie billigen Kram zu kaufen und in die braune Tüte zu stopfen. Und dann auch noch die Milch vom Supermarkt. Leider wurde die Tüte dann sehr schwer. Ich bekam Angst, dass sie reißen könnte. Und klemmte sie mir unter dem Arm, denn die Vorstellung, sie könnte kaputt gehen, mein Einkauf, von dem eigentlich nur das Salz geplant war, könnte sich über den Bürgersteig des Kottbusser Damms verteilen, war mir nicht angenehm.
Ein gemischter Bummel war das. Sowohl inhaltlich als auch emotional. Aber wir haben wieder Salz. Und die Sonne schien.
Mlle Händel - 7. Sep, 18:45