Donnerstag, 26. Oktober 2006

Spaziergangswissenschaft

„Wir bewegen uns heute in einem Kontinuum, das wir als die Metropole bezeichnen: Wir meinen damit jenes Gemisch aus Bauten und Grünflächen, das die ehemalige Stadt und das ehemalige Land überzieht. Wir wissen, dass diese Feststellung Protest hervorruft, dennoch sagen wir es: nie waren unsere Städte so grün wie heute. Kein Verwaltungsgebäude, keine Fußgängerzone, die nicht ihren knappen Boden noch durch üppige Bepflanzung mit den Produkten der Baumschulen unbrauchbar gemacht hätten. Wir kommen auf das Phänomen, das gerade die Ubiquität des Grüns die eigentlichen Gärten unsichtbar werden lässt, noch zurück. Leichter wahrnehmbar ist die Veränderung des ehemaligen Landes. Kein Landstädtchen gibt Ruhe, bevor es nicht auch, wie die Stadt, ein paar niedrige Hochhäuser aufweist. Und auch auf dem Dorfe wird zumindest die Gemeindeverwaltung ausgebaut, als wäre es die Deutsche Bank. Nicht ohne, wir betonen es, die nötigen Zwergsträucher und Steppengräser darum herum, die sich in dem ehemaligen Ackerboden gegen adventive Sonnenblumen und Herkulesstauden behaupten müssen.“

Ich bin seit heute Anhängerin einer Wissenschaft, die ich ebenfalls heute entdeckt habe, und zwar bei der Lektüre von Warum ist Landschaft schön? von Lucius Burckhardt, dem Begründer der Spaziergangswissenschaft, auch bekannt als Promenadologie, oder englisch als Strollology.
Ich werde wohl an dieser Stelle noch öfter daraus zitieren müssen, womöglich sogar jetzt gleich noch, und lege die Lektüre dieses grandiosen Werkes allen geneigten LeserInnen nahe, zumal es mir unmöglich ist, die Komplexität der Promenadologie in einem diesem Medium angemessenen Rahmen zusammenzufassen. Sehr grob gesagt geht es um Wahrnehmung der Landschaft, die durch den Spaziergang sowohl geschaffen als auch verändert wird, während genau dieses wiederum durch den bewussten Spaziergang wahrgenommen werden kann, um das Verhältnis von Stadt und Land und die Entwicklung der Fortbewegung; noch gröber: es ist die Wissenschaft, die ich mir immer gewünscht habe.
Lieber noch ein Zitat:

„Dieses im Kopf konstruierte Bild ist aber nur machbar durch die narrative Folge, die innere Logik und den Zusammenhang der gesehenen Bildfolgen. (...) Wenn ich in Holland auf eine Windmühle, im Ruhrgebiet auf einen Förderturm oder im Schwarzwald auf einen Misthaufe stoße, so kann ich diese Objekte gut einordnen. Stieße ich aber im Schwarzwald auf einen Förderturm, so würde ich diesen, je nach Temperament, entweder in mein Vergessnis stopfen oder aber er würde mich ärgern, ich würde ihn der Landschaftsschutzbehörde melden und seine Beseitigung verlangen. Vermutlich würde ich dann die Entdeckung machen, dass schon ein entsprechender Verein existiert, sei es für die Bewahrung der Fördertürme im Ruhrgebiet, sei es für die Beseitigung ebensolcher im Schwarzwald.“

Lucius Burckhardt, Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft, erschienen im Martin Schmitz Verlag.
Zitate aus den Texten Spaziergangswissenschaft und Brache als Kontext - Postmoderne Landschaften - gibt es das?.
DanielSurreal (Gast) - 26. Okt, 21:42

der eine: "Das Leben ist ein Marathon, aber die meisten Menschen leben so, als wäre es ein Sprint."

die andere: "Also für mich ist das Leben ein Spaziergang."

Mlle Händel - 27. Okt, 12:53

Nachtragszitat mit bisschen Insidergehalt:

"Landschaft als lieblich zu erkennen, wäre also der Versuch, das am besuchten Ort wirklich Gesehene so zu filtrieren, dass es in eine unserer Idealvorstellungen des lieblichen Ortes integriert werden kann: je mehr das Gesehene der Erwartung entspricht, dem Brunnen vor dem Tore, dem stillen Gestade am See, dem weißen Spitzchen Conrad Fedinand Meyers, desto höher die Befriedigung des Spaziergängers."

neo-bazi - 31. Okt, 22:06

Vermutlich gibt es auch bald VHS-Kurse zu diesem wichtigen Thema, auf deren Besuch ich aber verzichten werde.

Mlle Händel - 31. Okt, 23:21

Nicht doch! Das wäre ausgesprochen schade.

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